Chios – sechs Monate später

13139259_579922978843398_4659344352754871299_nFast ein halbes Jahr ist es her, dass ich mich nach Chios auf den Weg gemacht habe. Seitdem ist viel passiert auf beiden Seiten der Ägäis …

Der Versuch einer „europäischen Lösung“ der so genannten „Flüchtlingskrise“ ist bis auf weiteres gescheitert; die Balkanroute wurde abgeriegelt, ohne jede Aussicht auf Alternativen – auch für die inzwischen über 50.000 in Griechenland gestrandeten Flüchtlinge. Mit einem fragwürdigen Partner wurde ein fragwürdiges Abkommen von fragwürdigem Inhalt geschlossen, das der UN-Menschenrechtskommissar in Teilen für illegal hält. Angesichts der jüngsten Entwicklungen erscheint es mir völlig offen, ob das EU-Türkei-Abkommen die nächsten Wochen übersteht – und ob sein Scheitern ein Verlust wäre.

Und auf Chios?

Die Zahl der neuen Flüchtlinge, die auf Chios und den anderen griechischen Inseln ankommen, ist stark zurück gegangen – von 57.000 im Februar auf 4.000 im April. Heißt das nun, es gibt für freiwillige Helfer nichts mehr zu tun?

Zwar ist die Zahl der Neuankömmlige stark gesunken (obwohl sie immer noch kommen!). Aber: Während vor dem Deal die meisten Geflüchteten nur ein bis zwei Tage auf den Inseln blieben, bevor sie aufs griechische Festland weiterreisen konnten, hängen inzwischen mehrere Tausend Menschen auf den Inseln fest, teilweise seit Wochen, in völlig unzureichenden Bedingungen, wie z.B. dieser Bericht des „Independent“ aus dem „EU-Hotspot“ – besser: Internierungslager – VIAL auf Chios zeigt.

Derzeit hängen ca. 2.500 Personen auf Chios fest. Etwa 50 sind vor einer Woche in den Hungerstreik getreten. Ihre Forderungen: Zugang zu Anwälten, Informationen über ihr Asylverfahren!

„Mein“ Team,

das Chios Eastern Shore Response Team (CESRT) ist weiter unermüdlich im Einsatz. Der Arbeitsschwerpunkt hat sich etwas verschoben, wie sich auch in der Namensänderung von „Rescue Team“ zu „Response Team“ ablesen lässt: Die Erstversorgung von Neuankömmlingen an der Küste findet immer noch statt, bei höchstens noch einem Boot am Tag (zu Spitzenzeiten hatten wir 30 in einer Nacht) aber nicht mehr so zentral. Viele andere Aufgaben laufen weiter oder sind neu dazu gekommen: Etwa die Versorgung mit Kleidung und anderen Hilfsgütern aus dem vergrößerten Depot – hier arbeiten die verscheidenen Teams und Hilfsorganisationen Hand in Hand! Die „Chios Street Kitchen“ hilft weiter bei der Nahrungsversorgung, die in den Camps völlig unzureichend ist. Freiwillige reinigen weiter Strände und die Umgebung der Camps. Ein neuerer Arbeitszweig: Die Betreuung von Kindern und Jugendlichen (siehe das Bild oben) – neuerdings sogar in einer neu gestarteten Schule!

Der nächste Schritt

Gegen Ende meiner letzten Reise und nach meiner Rückkehr hatte ich immer wieder den Gedanken: Ich gehe zurück nach Chios! Ein Teil davon war sicher Verarbeitung des Erlebten, aber der Gedanke blieb – und wurde konkreter. Und noch konkreter, als meine Frau Dinah mir vor ein paar Wochen sagte, sie würde im Sommer mit mir gehen!

Inzwischen sind die Flüge gebucht: In der zweiten Julihälfte werden wir zu zweit für gut 10 Tage auf Chios sein!!!

Was machen wir dort?

Diesmal habe ich eine bessere Vorstellung bei meiner ersten Reise – aber die Situation hat sich so sehr verändert, dass ich in vielem wieder genauso ahnungslos bin. Also: Wir kommen, um zu dienen – um dort anzupacken, wo wir eben gebraucht werden.

Warum gehen wir?

„Was willst du da? Was kannst du schon ändern? Die Situation ist doch so verfahren … hoffnungslos!“ Was antworte ich auf solche Einwände?

Nun, wie bei jedem Hilfseinsatz gilt: Keiner kann alles tun, aber jeder kann etwas tun. Ich muss nicht die Welt retten (da gibt es jemanden, der kompetenter ist … Gott sei Dank!), aber ich kann dem Einzelnen helfen. Ich kann nicht die Gesamtproblematik ändern – aber ein paar Schuhe, eine warme Mahlzeit, ein Nachmittag mit Lachen, ein freundliches Lächeln, ein Wort des Segens kann im Leben eines Menschen einen Unterschied machen.

Und: Wenn Europa den Geflüchteten die Tür zuschlägt, ist es ein Segen, wenn wenigstens einzelne Europäer durch ihr Da-Sein und ihren Einsatz zeigen: Ihr seid uns nicht egal. Wir denken nicht alle so. Wir stehen auf für Menschlichkeit. Wir lassen uns nicht lähmen von dem, was wir nicht ändern können – sondern wir tun, was uns möglich ist. Und als Nachfolger von Jesus sagen wir: Wir lassen unser Licht leuchten in die Dunkelheit. Und wenn es nur ein Streichholz ist …

Update: Wir freuen uns, wenn ihr uns helft, zu helfen!


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Kommentare

Eine Antwort zu „Chios – sechs Monate später“

  1. […] Am 19. Juli fliegen Dinah und ich von Berlin nach Athen, von dort geht es per Schiff weiter nach Chios, wo wir für zehn Tage in der Flüchtlingshilfe anpacken wollen (Warum und was, erkläre ich hier). […]

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