Über dem Meer

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Hätte ich nicht gedacht, dass es mich so erwischt.

Ja, meine 10 Tage auf Chios waren anstrengend – körperlich und vor allem emotional. Aber solange ich dort war dachte ich, ich bin ganz ausgeglichen. Hab ja auch schon einiges gesehen. Habe eine gesunde Seelenhygiene. Ich kann beten.

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Und jetzt stehe ich an Deck der kleinen Fähre zurück nach Cesme – und heule. Der Abstand zu der Insel wächst, auf der ich so viel erlebt habe, und ich bekomme sie immer mehr als Ganzes in den Blick. Mir ist, als würde mein Herz im gleichen Maß mehr von der ganzen Tragik erfassen, mit der ich hier konfrontiert wurde. Dabei sind es wieder einzelne Bilder oder Gedanken, die mir die Kehle zuschnüren:

Die Überfahrt kostet mich 20 Euro.
Unterwegs gibt es ein Dach über dem Kopf und schlechten Kaffee.
Mit ein paar anderen Worten auf meinem Ausweis würde mich die Überfahrt gute 1000 Euro kosten, meine Würde und vielleicht – nicht unwahrscheinlich – mein Leben.

Ich schaue mir die Passagiere auf Deck um mich herum an: der Alte im Sakko und braunen Rautenpulli (ein Gesicht wie ein türkischer Walter Matthau!), die junge Frau auf der Bank gegenüber)(ob die wohl auch manchmal lächelt?), sas Pärchen, das auf dem Vorderdeck kuschelt, der Bärtige, der sich wie ich mit seinem Smartphone beschäftigt (ist das auch ein Volunteer?), die Familie mit dem kleinen pausbäckigen Jungen (wie alt ist der? Fünf? Sechs?), die Damen, die unter Deck türkischen oder griechischen Kaffee trinken, je nachdem (gibt es da eigentlich einen Unterschied?) und dir Crew auf der Brücke.
Und dann denke ich auf einmal: wir könnten genauso gut in einem Schlauchboot sitzen, in der Gegenrichtung. Junge und Ältere, Frauen und Männer, Reiche und Arme, Gute und Böse – im Schlauchboot sind wir alle gleich (OK, es gibt tatsächlich ein paar Superreiche, die sich ihr Privatboot chartern…). Und die Menschen, die da als „Flüchtlingsmassen“ ankommen, waren vorher genau so individuell wie wir uns gern sehen – bis sie durch den großen Gleichmacher des Elends gegangen sind. Behandeln wir sie doch auch als einzelne Menschen.

Ich lasse meinen Blick über die See schweifen. Und kann es mir nicht verkneifen, genau hinzuschauen: Kommt da irgendwie ein Boot? Beim Auslaufen war die See sehr ruhig.
Aber hier draußen ist der Seegang viel stärker. Wahrscheinlich unterschätze ich das von der Fähre eher noch. Könnte ein Schlauchboot das schaffen? Ab einem gewissen Seegang haben sie konstruktionsbedingt keine Chance mehr, habe ich gehört.
Wenn wir jetzt auf ein Boot träfen, hier die Flüchtlinge, da, ein paar Meter höher die „normalen“ Passagiere: Verrückter Gedanke – das hätte was von Safari. Whale watching. Guck mal da, die Armen. Wie schlimm. Oder könnten wir effektiv helfen? Immerhin habe ich eine große Reisetasche voller Rettungsdecken dabei für unsere türkischen Freunde…

Eine Freundin schreibt mir: Gut, dass du noch Tränen hast.

Und dann bin ich wieder in Asien. Hacer holt mich an der Fähre ab. Eine feste Umarmung. Wir haben viel gemeinsam seit letzter Woche.

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Kommentare

Eine Antwort zu „Über dem Meer“

  1. Avatar von Christine Reimund
    Christine Reimund

    Alexander es ist wirklich gut dass du noch Tränen hast und damit auch ein weiches Herz. Nimm dir die Zeit die es braucht um das Erlebte zu verarbeiten aber dann kehre auch wieder zurück in dein Leben – so verändert wie es dann auch ist aufgrund deiner Erlebnisse. Du hast einen tollen Dienst gemacht und Menschen geholfen. Weißte jeder noch so kleine Schritt ist einer in die richtige Richtung. Gott sei dir heute mal besonders nahe.

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